Bundeszentrale für politische Bildung

Bereits 2003 hat die Bundeszentrale für politische Bildung einen Grundsatzartikel zum Politischen Islam veröffentlicht.

Fettdruck = wichtige Begriffe, rot = Schlüsselaussagen


Politischer Islam im 20. Jahrhundert

Eine starke Wirkung entfaltete im 20. Jahrhundert ein Phänomen, das die Wissenschaft politischer Islam oder Islamismus nennt. Im populären Sprachgebrauch ist es auch unter dem Namen islamischer Fundamentalismus bekannt.

Der Panislamismus Jamal ad-Din al-Afghanis schreckte die europäischen Kolonialmächte auf, er entwickelte in der muslimischen Welt allerdings nur eine begrenzte Anziehungskraft. Wesentlich stärkere Wirkung entfaltete dagegen im 20. Jahrhundert ein Phänomen, das die Wissenschaft politischer Islam oder Islamismus nennt und das im populären Sprachgebrauch auch unter dem Namen islamischer Fundamentalismus bekannt ist.

Was aber ist ein Islamist? Und wie unterscheidet er sich von einem „normalen“ Muslim? Ein Muslim ist zunächst einmal jeder, der „Islam“ praktiziert, was so viel bedeutet wie Hingabe an Gott. Jeder Muslim glaubt an die absolute Einheit Gottes und daran, dass Mohammed sein Prophet ist und dass Koran sowie Sunna heilig und unfehlbar sind. Dieser Glaube vereint weltweit alle Muslime.

Jeder Islamist ist auch ein Muslim. Er glaubt gleichfalls an die Einheit Gottes und die Prophetenschaft Mohammeds, genauso wie er den Koran für das unmittelbare Wort Gottes hält, das ewig und uneingeschränkt gültig ist. Diese Gemeinsamkeit in den grundlegenden Glaubensfragen ist es, die bei Außenstehenden für Verwirrung sorgt und vorschnell dazu verleiten kann, jeden Muslim für einen „islamischen Fundamentalisten“ zu halten. Die Unterschiede zwischen beiden sind jedoch gewichtig; sie betreffen vor allem die Interpretation der Heiligen Schrift beziehungsweise der Sunna. Denn trotz der Betonung der Unfehlbarkeit der koranischen Vorgaben ist keine dieser Vorgaben so eindeutig, dass sie nicht menschlicher Interpretation bedürfte, wenn sie in die Praxis umgesetzt werden soll.

Deutlich wird das an folgendem Beispiel: Für Diebstahl sieht der Koran eine eindeutige Strafe vor: „Wenn ein Mann oder eine Frau Diebstahl begangen haben, dann haut ihnen die Hand ab!“ Diese Bestimmung ist eindeutig, sie lässt scheinbar keine Fragen offen. Oder doch? Zu Mohammeds Zeiten, als die islamische Gemeinschaft noch klein und homogen war, mag das so gewesen sein, erklärt der syrische Philosoph Sadiq al-Azm in einem Interview. „Aber bald traten Probleme auf. Was machen sie, wenn jemand eine Mark klaut und ein anderer zwei Millionen? Schlagen sie beiden die Hand ab?“ fragt al-Azm. „Was für eine Art von Gerechtigkeit ist das? Oder ein Muslim klaut das Schwein eines Christen. Schlagen sie ihm die Hand ab, obwohl es sich um einen Christen handelt und Schweine verboten sind? Es stellte sich schnell heraus, dass das Handabschlagen nur sehr begrenzt Gültigkeit haben konnte.“

Heute wird diese Strafe in den meisten islamischen Ländern nicht mehr praktiziert. Selbst unter Islamisten gibt es Stimmen, die darauf verweisen, dass einem Dieb nur dann die Hand abgeschlagen werden darf, wenn in der Gesellschaft absolute Gerechtigkeit herrscht und es keine Armut mehr gibt.

Das oben angeführte Beispiel lässt erkennen, dass sich der Islam im Laufe seiner Geschichte den unterschiedlichsten Situationen anzupassen wusste und in dieser Hinsicht Flexibilität entwickelte. Freilich war diese Flexibilität abhängig von der jeweiligen politischen Lage: Je stabiler sie war, desto toleranter und flexibler zeigten sich die Muslime, umgekehrt galt (und gilt) das Gleiche. Doch der Islam passte sich nicht nur in seinen Rechtsvorschriften den jeweiligen Verhältnissen an. Auch der alltäglich gelebte Islam entwickelte sich beispielsweise in Persien anders als in Andalusien. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich in den Gebieten der islamischen Welt, die teilweise Tausende Kilometer auseinander liegen, verschiedene Traditionen entwickelt, so dass, bis auf die oben genannten grundlegenden Gemeinsamkeiten, kaum mehr von einem einheitlichen Islam die Rede sein konnte.

Es ist genau die Akzeptanz oder Ablehnung dieser verschiedenen Ausprägungsformen des Islam, die einen traditionellen Muslim von einem Islamisten unterscheidet. So wird ein traditioneller Muslim in Ägypten den Islam so annehmen, wie er sich in seinem Land über die Jahrhunderte hinweg entwickelt hat, ein ägyptischer Islamist hingegen nicht. Letzterer sucht nach dem wahren Kern des Islam und wertet die späteren Entwicklungen, die der traditionelle Muslim ungefragt akzeptiert, als Abweichungen vom Ideal. Der Islamist versucht, so weit wie möglich dem Islam zu entsprechen, wie ihn der Prophet Mohammed vorgelebt hat, und lässt nur den Koran sowie die Sunna als Quellen gelten. Den Rest, die Jahrhunderte der Entwicklung und Anpassung, lehnt er ab. Das kann zu einem terroristischen Extremismus führen, wie er beispielsweise von Osama bin Laden und seiner Organisation al-Qaida verkörpert wird.

Das beste Beispiel ist das Konzept des Dschihad. Der Dschihad, der Kampf für den Islam, hatte in der ersten Phase der islamischen Geschichte durchaus offensiven Charakter: Es ging darum, den Herrschaftsbereich der Umma auszudehnen. In den wenigsten Fällen wurden die Ungläubigen jedoch mit dem Schwert dazu gezwungen, den Islam anzunehmen. Vielmehr konnten sie ihre Religion weiter praktizieren. In Ägypten etwa stellten die Christen bis zu den Kreuzzügen die Mehrheit der Bevölkerung. Als die islamische Expansion zum Erliegen kam, änderte sich auch die Bedeutung des Dschihad. Er wurde jetzt als Mittel der Verteidigung gedeutet, im Falle eines Angriffs von außen auf die islamische Gemeinde.

Militante Islamisten vom Schlage Osama bin Ladens verwerfen die historisch gewachsene Interpretation des Dschihad und nehmen ihn als Rechtfertigung für ihren Krieg gegen die Ungläubigen. Sie beziehen sich dabei besonders auf einen Koranvers, in dem es heißt: „Und wenn die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Heiden, wo immer ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie und lauert ihnen überall auf“ (Sure 9, Vers 5). Sie reißen diese Stelle aus dem Zusammenhang und wenden sie eins-zu-eins auf die heutige Situation an. Das, so der Erlanger Islamwissenschaftler Hartmut Bobzin, entspreche aber nicht der üblichen Koranauslegung: „Es gab immer die Überzeugung, dass Stellen wie ,tötet die Heiden, wo immer ihr sie findet‘ auf eine ganz eng begrenzte Situation der Rückeroberung Mekkas zu beziehen sind. Mohammed war in Medina und ging daran, Mekka wieder für die Gläubigen zu erobern. Das war sozusagen der Offenbarungsanlass. Darüber hinaus hat das nach dieser Interpretation keine weitere Geltung mehr.“

Wenngleich sich die Islamisten stets auf den Koran beziehen, wollen sie nicht zurück ins Arabien des siebten Jahrhunderts. Vielmehr nehmen sie den Koran und das Beispiel des Propheten als Idealzustand und versuchen, ihn in der heutigen Zeit umzusetzen.

Um es kurz zusammenzufassen: Der Unterschied zwischen einem traditionellen Muslim und einem Islamisten besteht in ihrer Akzeptanz oder Ablehnung der historisch gewachsenen Traditionen. Ein traditioneller Muslim akzeptiert den Islam, so wie er sich in Jahrhunderten entwickelt hat, während ein Islamist allein Koran und Sunna als Maßstäbe gelten lässt.

Der entscheidende Unterschied zwischen einem traditionellen Muslim und einem Islamisten betrifft jedoch ihre Einstellung zur Politik. Die Islamisten verstehen den Islam als eine Ideologie, die klare Handlungsanweisungen gibt für den Kampf gegen das, was sie als Unrecht und Unterdrückung empfinden. Als Gegner betrachten die Islamisten den Westen und seine Verbündeten im Nahen Osten. Dazu zählen sie nicht nur Israel, sondern auch die mit den USA verbündeten, in den Augen der Islamisten korrupten, vom Pfad der Religion abgewichenen, arabischen Regime.

Islamistische Zielvorstellungen

Für die Islamisten ist der Kolonialismus noch nicht beendet. Unabhängigkeit, soziale Gerechtigkeit, Gleichheit, Einheit, eine Gesellschaft ohne Laster und Korruption – das sind, stichwortartig zusammengefasst, die Ziele, die die Islamisten verfolgen. Unabhängigkeit heißt hier zuvorderst Unabhängigkeit von westlicher Dominanz, um die „Befreiung Palästinas“ und damit das endgültige Ende des europäischen Kolonialismus herbeiführen zu können.

Manche islamistische Bewegungen konzentrieren sich deswegen in der ersten Phase ihrer Arbeit mehr auf die Missionierung als auf die Politik. Für sie ist es wichtiger, Einfluss auf die Bildungspolitik zu haben als auf sicherheitspolitische oder militärische Entscheidungen. Erst als nächster Schritt folgt der Griff nach der Macht. Abd al-Aziz al-Rantisi aus Khan Yunis im Gazastreifen, einer der Gründer der palästinensischen Hamas-Bewegung, deren Ziel die „Befreiung Palästinas“ ist, erklärt dieses Prinzip: „Hamas ist zuerst eine Missionsbewegung, eine religiöse Bewegung, die die Gesellschaft dazu bringen will, den Säkularismus abzulegen und zur Religion zurückzukehren. Sie war anfangs hauptsächlich in den Moscheen tätig. Sie hat die palästinensische Gesellschaft von einer säkularen zu einer religiösen gemacht.“ Ist aus einem säkularen Muslim erst ein religiöser geworden, so die Überzeugung der Islamisten, wird er auch eher bereit sein, für sein Land zu sterben. „Der religiöse Mensch ist der erste Nationalist“, so Rantisi weiter. „Jeder Mensch, der eine Religion hat, verteidigt sein Land. Und wer im Kampf für sein Land und sein Volk stirbt, gilt im Islam als Märtyrer, er geht direkt in den Himmel.“

Der Kampf gegen westliche Dominanz und für die „Befreiung Palästinas“ bildet also ein Hauptziel des Islamismus. Doch darüber hinaus sind die Islamisten auch der Überzeugung, sie seien eher in der Lage, die Gesellschaft von Korruption zu befreien und Gerechtigkeit zu schaffen. Khalid Amayreh, ein palästinensischer Journalist aus Hebron, formuliert es so: „Die wichtigste Grundlage einer islamischen Gesellschaft ist die Gleichheit. Alle müssen die gleichen Chancen haben, der Sohn des Kalifen genauso wie der Sohn eines Arbeiters.“

Die Islamisten träumen von einer organischen, homogenen Gesellschaft, in der jedes Mitglied seine zugeordnete Rolle spielt. Streit und Zwietracht unter den Mitgliedern der Gesellschaft werden als gefährlich für die Einheit der islamischen Gemeinschaft betrachtet und sollen daher auf zweitrangige Fragen beschränkt bleiben. Denn Streit birgt Schwäche in sich, so die Islamisten, die von den Feinden des Islam ausgenutzt werden kann. Die Normen für diese homogene Gesellschaft finden die Islamisten in der Scharia. Die Nuancen, die das islamische Gesetz zulässt, weisen sie dabei von der Hand. Sie behaupten, ihre Interpretation der Scharia entspreche dem Willen Gottes und sei deswegen nicht anfechtbar.

Neue Aspekte des Islamismus

Immer wieder sind in der islamischen Geschichte Bewegungen aufgetreten, die eine Rückkehr zu den Wurzeln verlangten und den Islam von in ihren Augen verderblichen Praktiken reinigen wollten. In dieser Hinsicht sind die Islamisten also nichts Neues. So stürmten im 18. Jahrhundert die Wahhabiten über die Arabische Halbinsel hinweg und verboten alles, was sie als nicht-islamisch bezeichneten, beispielsweise Rauchen und Heiligenverehrung. Etwa zweihundert Jahre später gründeten sie ihren eigenen Staat, das Königreich Saudi-Arabien. Außer dem Puritanismus verbindet die heutigen Islamisten jedoch wenig mit den Wahhabiten. Am deutlichsten lässt sich der neuartige Charakter des Islamismus an seinen Führungsköpfen festmachen: Sie sind meist gebildet, leben in der Stadt und üben moderne Berufe wie Ingenieur, Journalist oder Rechtsanwalt aus. Typisch für die Islamisten ist ferner, dass sie sich Gedanken über den Zustand ihrer Gesellschaft machen und sensibel sind, für das, was sie aus ihrer Sicht als Unrecht empfinden.

Da sie glauben, dass die Scharia, das islamische Recht, ein vollkommen gerechtes System schafft, das die islamische Welt aus der Krise führen kann, streben sie einen Staat an, in dem alle Bereiche des Lebens von der Scharia geregelt sind. Das klingt altmodisch und rückwärts gewandt. Dahinter verbirgt sich aber ein neuartiges Verständnis vom Verhältnis zwischen Staat und Religion. Während im Mittelalter die Rechtsgelehrten sich in ihrer Interpretation der religiösen Texte nur vor Gott rechtfertigten mussten, ist es jetzt der Staat, der die volle Kontrolle über die Rechtsprechung ausüben soll. In letzter Konsequenz bedeutet das, dass die Interessen des Staates Vorrang haben vor der Religion. So erklärte Ayatollah Khomeini im Januar 1988, dass die „Regierung einseitig befugt ist, jede Situation zu verhindern, die eine Gefahr für ihre Interessen hervorrufen könnte“. Das heißt, so Khomeini weiter, dass „im Islam die Erfordernisse der Regierung Vorrang haben vor allen anderen Grundsätzen, einschließlich des Betens, des Fastens und der Pilgerfahrt nach Mekka“.

Zwar glauben die Islamisten, dass sie mit der Errichtung eines islamischen Staates Gottes Wille erfüllen, letztlich ist der Adressat ihrer Politik aber nicht Gott, sondern das Volk. Bassam Ammoush, ein jordanischer Muslimbruder, der der so genannten pragmatischen Fraktion angehört, drückt das wie folgt aus: „Der Islam steht im Dienste der Menschen. Er sagt nicht: ,Wartet auf den Himmel und vergesst das Leben hier.‘ Der Himmel ist für Gott, dieser Staat ist für uns, und wenn wir ihn nicht mögen, dann müssen wir ihn ändern.“ Das Volk als Adressat der Politik ist jedoch ein modernes Phänomen, das erst im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts entstanden ist. Die Islamisten möchten ihre Gesellschaft modernisieren, gleichzeitig aber die negativen Randerscheinungen vermeiden, die dieser Prozess ihrer Meinung nach im Westen hervorgerufen hat.

Was die moralischen Vorstellungen angeht, weisen christlicher und islamischer Fundamentalismus Gemeinsamkeiten auf. Beide sind eine Reaktion auf Krisenerscheinungen, beide wehren sich gegen den vermeintlichen Verfall der Moral, beide sehen den Erhalt der Familie als einzigen Schutz dagegen an, beide glauben, dass Gott den Geschlechtern eine bestimmte Rolle zugeordnet hat, die sie erfüllen müssen. Diese Gemeinsamkeiten können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Aufstand der Muslime sehr viel tiefer geht und letztlich andere Wurzeln hat als der christliche Fundamentalismus; es ist nicht nur ein Aufstand gegen den Verfall der Moral innerhalb der eigenen Gesellschaft, sondern auch ein Aufstand gegen ungleiche Machtverteilung, es ist ein Aufstand gegen die Vormacht des Nordens gegenüber dem Süden, ein Aufstand gegen den Postkolonialismus. Der Islamismus richtet sich gegen eine Weltordnung, von der die christlichen Fundamentalisten ein Teil sind und die sie verteidigen. Beide Bewegungen verbindet ein konservatives Gesellschaftsbild, ansonsten sind sie Gegner.


Quelle: 12.02.2003 Bundeszentrale für politische Bildung